Der Konsul
Der Schriftsteller Eduard Claudius als Diplomat in Syrien (1956–1959)
„Ich muss unzweideutig feststellen, dass die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen Akt ansehen würde.“[1] Dies verkündete Konrad Adenauer unter Beifall am 22. September 1955 im Deutschen Bundestag. Die später nach Walter Hallstein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, benannte und mit den drei Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich abgestimmte Doktrin besagte, dass die Bundesrepublik für sich das Recht in Anspruch nahm, auf diplomatischem Parkett für ganz Deutschland zu sprechen. Sie drohte Drittstaaten an, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen, sollten sie solche mit der DDR eingehen.[2] Allerdings passierte dies nur zweimal, 1957 gegenüber Jugoslawien und 1963 gegenüber Kuba. In den meisten Fällen blieb es bei Drohungen oder wirtschaftlichem Druck, der die Gegenseite einknicken ließ.
Für die Staaten der damals sogenannten Dritten Welt wiederum war die Hallstein-Doktrin ein Mittel, um ihrerseits Druck auf die Bundesrepublik zur wirtschaftlichen Unterstützung ihrer Länder auszuüben, nach dem Motto: Wenn ihr uns keine Unterstützung zukommen lasst, nehmen wir eben diplomatische Beziehungen zur DDR auf. Umgekehrt hatte die DDR einen Preis zu zahlen, wollte sie jenseits der sozialistischen Welt anerkannt sein. Gelegentlich wurden die beiden deutschen Staaten auch nach allen Regeln der diplomatischen Kunst gegeneinander ausgespielt.
Frühe Beziehungen zwischen Syrien und der DDR
Seit Mitte der 1950er Jahre gab es vorsichtige Kontaktaufnahmen der Deutschen Demokratischen Republik zu arabischen Staaten. Sie bezogen sich vor allem auf wirtschaftliche Zusammenarbeit. Besonderes Interesse hatte die Ostberliner Regierung, abgesehen von ihrem Verhältnis zu Ägypten, an Beziehungen zu Syrien. 1955 war die DDR erstmalig auf der „Damaszener Messe“, wie die Messe in Damaskus in den 1950er Jahren in den offiziellen Verlautbarungen genannt wurde, vertreten. Im November desselben Jahres reiste eine DDR-Regierungsdelegation nach Damaskus, um ein erstes Handelsabkommen mit Syrien auszuhandeln und eine Handelsvertretung in Damaskus zu begründen. 1956 wurde ein Kulturabkommen verabschiedet, erste syrische Studierende gingen in die DDR, Kulturensembles aus der DDR traten in Syrien auf, DEFA-Filme liefen auf arabischen Festivals. Eine rege Reisetätigkeit von Expertendelegationen begann.
Die ostdeutsche Seite aber wollte mehr. Sie war sehr an der Aufnahme konsularischer oder sogar diplomatischer Beziehungen interessiert, um für sich die Tür in den arabischen Raum zu öffnen.
Seit dem Winter 1957 gab es in Kairo ein Büro des Bevollmächtigten der Regierung der DDR für die arabischen Staaten, das Kontakte zu den Staaten des Nahen Ostens zu knüpfen versuchte, mit denen die DDR diplomatische Beziehungen aufnehmen wollte. Schon Monate vorher, im Juli 1956, hatte die DDR Anzeichen dafür gesehen, dass Syrien der Einrichtung eines Generalkonsulats der DDR in Damaskus zustimmen könnte. „Entscheidend war aber dafür dann die Haltung der Regierung der DDR zu Israel und später zu dem Beschluß der ägyptischen Regierung, die Suezkanal-Gesellschaft zu verstaatlichen“, heißt es in der „Kurzen Darstellung der Verhandlungen über die Errichtung eines Generalkonsulats der Deutschen Demokratischen Republik in der Republik Syrien“[3] vom 17. Oktober 1956.
Der Sonderbeauftragte für den Nahen Osten, Ernst Scholz, erhielt den Auftrag, beim Außenminister der Republik Syrien, Salah ad-Din al-Bitar, vorzufühlen. Die Gelegenheit war günstig. Al-Bitar war Mitbegründer der Baath-Partei, die sozialistische Ziele verfolgte. Auch hatten bereits ein Abgeordneter im syrischen Parlament sowie der Minister für Nationale Wirtschaft und der Minister für öffentliches Unterrichtswesen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR gefordert. Bei einem Treffen Scholz’ mit al-Bitar und seinem Staatssekretär Tarassi am 31. Juli 1956 erklärte der syrische Außenminister, „dass die syrische Regierung grundsätzlich dazu bereit sei, engere politische Beziehungen zur DDR einzugehen“.[4]
Die Beauftragten der DDR-Regierung mussten aber bald feststellen, dass sich auf der Basis von Lippenbekenntnissen keine Botschaft etablieren lässt: Die syrische Regierung fürchtete vor allem aus wirtschaftlichen Gründen den Abbruch der seit 1952 bestehenden diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik. Außerdem musste ein angestrebter Austausch konsularischer Vertretungen mit der DDR, also eine Stufe unterhalb einer Botschaft, auf jeden Fall mit Ägypten abgestimmt werden, mit dem Syrien eng zusammenarbeitete. Am 2. September erklärte der Staatssekretär Talassi, dass er von al-Bitar den Auftrag erhalten habe, die unmittelbaren Verhandlungen über den Austausch konsularischer Vertretungen zu führen. Ausschlaggebend hierfür war neben der Israel- und Suezfrage und der Enttäuschung der arabischen Staaten über die Haltung der Bundesrepublik in diesen Punkten auch noch ein anderes Moment: Die DDR hatte sich bereit erklärt, den eigentlich für Frankreich vorgesehenen, wegen der Suezkrise und der damit verbundenen Verschlechterung der syrisch-französischen Beziehungen aber dorthin nicht mehr lieferbaren syrischen Weizen anzukaufen – obwohl er nur für die Herstellung von Spaghetti, nicht aber für Brot brauchbar und zudem reichlich überteuert war.
Mitte September 1956 schlug die syrische Seite vor, „sich nicht auf ein Abkommen zu orientieren, das vom Parlament ratifiziert werden müßte, sondern auf einen Briefwechsel zwischen dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Syrien und dem Sonderbeauftragten für den Nahen Osten, Herrn Scholz, mit dem die Errichtung eines Generalkonsulats der DDR in Damaskus vereinbart werden sollte“.[5] Auf Ersuchen Scholz‘ bestätigte al-Bitar am 2. Oktober durch ein Schreiben die Genehmigung zur Errichtung des Generalkonsulats: „Ich habe die Ehre, Ihnen die Genehmigung (wörtlich: Zustimmung mit Willkommen) meines Ministeriums zur Einrichtung des Generalkonsulats mitzuteilen und diese Gelegenheit zu ergreifen, um Ihnen meine besten Wünsche und tiefe Hochachtung zu bezeugen.“[6] Einen Tag später erklärte Scholz seinerseits die Bereitschaft der Regierung der DDR, im Gegenzug ein syrisches Konsulat in Berlin einzurichten.
Die DDR-Regierung nahm an, dass Ägypten abwarten würde, wie die Westmächte auf ein DDR-Konsulat in Syrien reagierten, ehe es selbst konsularische Beziehungen zur DDR aufnehmen würde. „Es ist damit zu rechnen, daß das Generalkonsulat in Damaskus syrischerseits so behandelt wird wie eine diplomatische Vertretung, d.h., daß über das Konsulat auch alle politischen und kulturellen Fragen der Beziehungen zwischen der Republik Syrien und der DDR erledigt werden.“[7] Am 4. Oktober schreibt Ernst Scholz an den stellvertretenden Außenminister der DDR, Sepp Schwab: „Somit kann unser Generalkonsul ernannt und eingeführt werden. […] Im Hinblick auf die neue Lage empfehle ich, daß alle Vorbereitungen für die Entsendung unseres Generalkonsuls – ich nehme an, daß Herr Claudius berufen wird – unverzüglich getroffen werden.“[8]
Es ist in diesem Zusammenhang das erste Mal, dass der Name Eduard Claudius fällt, der zu dieser Zeit noch 1. Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbandes ist. Scholz empfahl, ihn binnen eines Monats nach Damaskus zu entsenden. „Von ausschlaggebender Wichtigkeit ist, dass der Generalkonsul ohne weiteren Verzug hier eintrifft, damit seitens des syrischen Protokolls die Aufnahme der Tätigkeit des Generalkonsulats offiziell bekanntgegeben werden kann.“[9]
Syrien befand sich zu dieser Zeit in einem permanenten Krisenmodus. Die Allparteien-Regierung von Sabri Assali gab es erst seit Juni 1956 und sie war von fragiler Konstitution. Zwar waren die Briefe ausgetauscht und entsprechende Absichten geäußert worden, ein Generalkonsulat stand aber weiterhin nur auf dem Papier. Die Handelsvertretung der DDR rechnete Mitte Oktober mit einer Regierungskrise in Syrien und drang auf schnelles Handeln. Die DDR-Regierung mietete umgehend eine geeignete Immobilie in Damaskus. Am 22. Oktober 1956 gab der Handelsattaché Frank Zeidler dem Staatssekretär Talassi schon einmal den Namen Eduard Claudius bekannt, auch wenn Talassi bat, nichts zu überstürzen. Die syrische Seite spielte auf Zeit.
Vom Schriftsteller zum Diplomaten
Wie kam ein Schriftsteller, der sich wenige Jahre zuvor noch kämpferisch für die Durchsetzung des Sozialistischen Realismus als herrschende Doktrin in der Literatur der DDR eingesetzt hatte, auf den Posten eines Diplomaten? Wieso gab einer, der sich als Schriftsteller verstand, die machtvolle Funktion eines 1. Sekretärs des Schriftstellerverbandes der DDR auf, um einen von diplomatischen Verwicklungen geprägten Posten als Generalkonsul in Damaskus anzutreten? Sollte er nicht lieber zu Hause in Potsdam am Schreibtisch sitzen?
Von heute aus gesehen hat es den Anschein, als wäre es Eduard Claudius im Laufe des Krisenjahres 1956 zu heiß geworden auf seinem Posten, es braute sich in der Kulturpolitik der DDR etwas zusammen. Angesichts dieser Vorgänge sieht es aus wie eine Flucht aus dem deutschen Osten in den Nahen Osten: Eduard Claudius verzog sich diplomatisch in die Diplomatie.
Weder dass er Schriftsteller, noch dass er Diplomat in Syrien und Vietnam werden würde, war in der Kindheit von Eduard Schmidt vorhersehbar gewesen. Er war ein Kind des Ruhrgebiets. 1911 in Buer bei Gelsenkirchen geboren, lernte er wie sein Vater den Beruf des Maurers. Weil der Schriftsteller Hans Marchwitza sein Talent fürs Schreiben früh erkannte, wurde Schmidt, der sich später Claudius nannte, Arbeiterkorrespondent für die kommunistische Presse. Drei Jahre lang, von 1929 bis 1932, war er auf Wanderschaft in Europa. Als er wieder nach Hause kam, wurde er als Mitglied der KPD verhaftet. Nach der Haft ging Claudius 1934 in die Schweiz, die ihm jegliche politische Tätigkeit verbot. Weil er sich nicht daran hielt, wurde er 1936 des Landes verwiesen und floh vor der drohenden Auslieferung an Nazideutschland nach Spanien, wo er Mitglied der Internationalen Brigaden wurde. In seinem Roman „Grüne Oliven und nackte Berge“, der 1945 in Zürich erschien, hat er diese Zeit beschrieben. 1938 ging Claudius nach Frankreich. Als er 1939 illegal in die Schweiz zurückkehrte, wurde er interniert, Anfang 1945 gelang ihm die erneute Flucht. Als Mitglied der berühmten Partisanenbrigade „Garibaldi“ kämpfte er zuletzt noch in Oberitalien. „Mussolini habe ich in Mailand hängen sehen, ganz nah. Ich konnte ihn auch riechen.“[10] Danach kehrte er ins befreite Deutschland zurück. In seinen Erinnerungen „Ruhelose Jahre“ schrieb er: „Wir waren heimgekehrt ohne große Illusionen, wir hatten keine Blumen und keine Fanfaren auf dem Bahnhof erwartet, aber wir hatten die Notwendigkeit erkannt, den leeren Platz einzunehmen.“[11]
Weder in München, wo er eine Stelle als Pressechef im bayrischen Ministerium für Entnazifizierung bekam, noch in seiner Heimat, dem Ruhrgebiet, hielt er es lange aus. 1947 ging er in die sowjetische Besatzungszone, ursprünglich nur, um als westdeutscher Delegierter an einem Schriftstellerkongress teilzunehmen. Der sowjetische Kulturoffizier Alexander Dymschitz überredete ihn dann, in der DDR zu bleiben. 1948 begann Eduard Claudius seine Tätigkeit als Lektor des neu gegründeten Verlags Volk und Welt und zog nach Potsdam.
Im März 1951 verabschiedete das 5. Plenum des ZK der SED die Entschließung zum „Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur“. Eine exakte Definition dessen, was „formalistisch“ bedeutete, gab es nicht. Welches Werk unter dieses Verdikt fiel, bestimmten Kulturfunktionär*innen, oft mit existenziellen Auswirkungen für die Autor*innen dieser Werke.
Eduard Claudius wurde hofiert. 1951 veröffentlichte er sein bekanntestes Werk, den auf seiner Reportage „Vom schweren Anfang“ fußenden Roman „Menschen an unserer Seite“ über den Aktivisten Hans Aehre, der gegen alle Widrigkeiten die politisch festgelegte Arbeitsnorm in seinem Betrieb übererfüllt. Es galt als eines der ersten Bücher in der noch jungen DDR, die die Doktrin des Sozialistischen Realismus erfüllten. Ästhetisch war der Roman konventionell, genau wie das Geschlechterbild, die Figurenzeichnung und die Konflikte waren übersichtlich: Der Held übererfüllt die Norm und die Frau wartet zu Hause mit dem Essen auf ihn. Sieben Jahre später verdichteten Heiner und Inge Müller in ihrem Theaterstück „Der Lohndrücker“ den Claudius’schen Stoff zu einem ästhetisch neuartigen Theaterstück in dialektischer Strenge und mit messerscharfen Dialogen. Im Gegensatz zu Claudius’ Roman wurde es kontrovers diskutiert und überdauerte die Zeit.
Als Eduard Claudius 1955 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes und somit Literaturfunktionär wurde, beerbte er den in Ungnade gefallenen Gustav Just, der im Januar 1955 abgesetzt und zum stellvertretenden Chefredakteur der Wochenzeitung Sonntag ernannt wurde. Zwei Jahre später geriet Just in den Strudel des politischen Prozesses gegen Wolfgang Harich.[12]
Es war eine Zeit, in der die SED permanent in den Verband hineinredete und der Verband sich auch hineinreden ließ. „Schreiben und gestalten Sie […] den Enthusiasmus, unsere Leidenschaft und das große Verantwortungsbewußtsein, das die Arbeiter im Kampf um das Neue beseelt“,[13] schrieben Braunkohlenarbeiter an den Vorstand des Schriftstellerverbandes. Das war keine Bitte.
Vom 9. bis 14. Januar 1956 fand in Berlin der IV. Deutsche Schriftstellerkongreß statt, auf dem Eduard Claudius als 1. Sekretär den Rechenschaftsbericht verlesen musste. Eigentlich hätte der Kongress schon im März 1955 als gesamtdeutscher Kongress stattfinden sollen. Claudius als ehemaliger Westdeutscher hatte das im Namen seiner westdeutschen Kollegen begrüßt. Aber nicht nur geschah dies nicht, auch der ursprüngliche Herbsttermin wurde verschoben, was unter den Mitgliedern für Unmut sorgte, weil nicht einmal die Präsidiumsmitglieder die konkreten Gründe kannten. „Eine Ursache dafür lag darin, dass das ZK der SED direkt auf die Vorbereitung Einfluss nahm, Absprachen mit den Verbandsfunktionären traf, wobei die gewählten Gremien des Verbandes übergangen wurden. Auf der anderen Seite war es die Verbandsspitze selbst, die die Konzeption für den Kongress dem Politbüro des ZK der SED und dem Kulturministerium vorlegte.“[14]
Aus dem Büro von Eduard Claudius war eine Vorlage an das Politbüro gegangen. Trotzdem wurde viel diskutiert auf dem Kongress. Hier wurden Konflikte vorweggenommen, die wenige Monate später zu einem ersten Exodus von Intellektuellen aus der DDR führen würden – ins Zuchthaus, in den Westen oder, wie im Fall von Eduard Claudius, in den Nahen Osten. Stefan Heym etwa widersprach Walter Ulbrichts Forderung, dass der Schriftsteller (Frauen waren mitgemeint) zusammen mit der Arbeiterklasse, den Bauern und der Intelligenz Verantwortung für die Gestaltung der neuen gesellschaftlichen Ordnung trage.
Die Enthüllungen des XX. Parteitages der KPdSU im Februar 1956 waren auch für die DDR-Schriftsteller*innen ein Schock. Die Verbrechen Stalins, der Große Terror, die Gulags und Erschießungen wurden erstmals öffentlich benannt.
Im Schriftstellerverband gab es viele, die gegen den Personenkult im Allgemeinen sowie gegen denjenigen um Walter Ulbricht und Johannes R. Becher im Besonderen rebellierten. „Die Krise im Zusammenhang des Ungarn-Aufstandes 1956 führte zu einer kulturpolitischen Eiszeit. Es ging der Ulbricht-Führung vor allem darum, die Diskussionen unter den Intellektuellen einzudämmen.“[15]
Die Aufgabe des 1. Sekretärs wäre es hier gewesen, die Schriftsteller*innen nach außen zu verteidigen und die Konflikte im Inneren zu moderieren. Offenbar fühlte sich Eduard Claudius von beidem überfordert und nahm die erstbeste Gelegenheit wahr, das Metier zu wechseln.
Claudius geriet sowohl als Schriftsteller wie auch als Diplomat in zwei internationale Konflikte: den Ungarnaufstand und die Suezkrise. (Später dann kam auch noch die sich zuspitzende Krise um Vietnam hinzu.)
Am 23. Oktober 1956 begann der Ungarische Volksaufstand mit einer friedlichen Demonstration Studierender in Budapest, die am Abend blutig niedergeschlagen wurde, sowjetische Truppen besetzten Budapest. Vierzehn Tage später gelangte eine prosowjetische Regierung unter János Kádár an die Macht. Eben noch in der DDR hofierte ungarische Intellektuelle wie der Literaturtheoretiker Georg Lukácz fielen in Ungnade.
Eduard Claudius war zu diesem Zeitpunkt schon unterwegs nach Kairo. Im November 1956 übernahm der Schriftsteller und Kulturfunktionär Max Zimmering die Funktion des 1. Sekretärs des Schriftstellerverbandes.
In der Diplomatie, in Deutschland traditionell eher eine Sphäre des Großbürgertums oder des Adels, wo Posten nicht selten vererbt wurden, gab es in der DDR besonders viel Platz für neue Kräfte. Das alte Personal war bis auf wenige Ausnahmen[16] politisch belastet und in die Bundesrepublik gegangen. Gesucht wurden nun Menschen, die weltgewandt waren und fremde Sprachen beherrschten. Eduard Claudius war so jemand. Wie genau es zu der Wahl des Schriftstellers als erster Generalkonsul der DDR in Syrien kam, darüber geben weder seine Erinnerungen noch die zugänglichen Akten Auskunft. Die Bundesrepublik war über Claudius‘ Schritt im Bilde. Im Bundesarchiv gibt es einen Hinweis auf eine Verschlusssache des Auswärtigen Amtes, Kulturabteilung, Abteilung 6, von 1957: „Eintritt des ehemaligen Sekretärs des ‚Deutschen Schriftstellerverbandes‘ Eduard Claudius in das sowjetzonale Außenministerium.“[17]
Die Einsetzung des Generalkonsuls verzögerte sich, weil die syrische Regierung kalte Füße bekommen hatte. Die westdeutsche Seite intervenierte, Firmen wie Mercedes hatten mit kommerziellen Auswirkungen gedroht. Bis zum Ende des Monats Oktober solle die Ankunft des Generalkonsuls noch verschoben werden, so Staatssekretär Talassi. Ein paar Tage später teilte er dem Handelsattaché Zeidler mit, die Mehrheit der Kabinettsmitglieder sei gegen eine Errichtung des Generalkonsulats, besser sei es, den künftigen Generalkonsul erst einmal als Mitglied der Handelsvertretung einreisen zu lassen. Zeidler sprach in seinem Brief an das Außenministerium der DDR davon, Talassi verfolge eine „orientalische Taktik des Zeitgewinnens“[18].
In seinem Bericht vom 7. Dezember beschrieb Eduard Claudius seine Odyssee auf dem Weg zum neuen Posten. Über Prag, wo er sein Visum für Syrien abholen musste, da es in der DDR noch kein syrisches Konsulat gab, reiste er nach Kairo, wo er vom 24. auf den 25. Oktober ankam. Dort bat man ihn um Geduld. „Der Überfall der Israelis auf Ägypten machte die Reise unmöglich. Durch zwei Telegramme Zeidlers wurde uns in den nächsten zwei Wochen mitgeteilt, daß die Lage unverändert sei. Dann erhielten wir keinen Bericht mehr.“[19]
Eduard Claudius hat in seinem 1975 erschienenen Buch „Syrien. Reise in sieben Vergangenheiten und eine Zukunft“ neben seiner Reise im Jahr 1973 auch kurz über seine Erlebnisse während der Zeit des Suezkrieges zwischen Frankreich, Großbritannien und Israel auf der einen und Ägypten auf der anderen Seite geschrieben. Am 31. Oktober 1956 hatten Frankreich und Großbritannien mit der Bombardierung ägyptischer Flughäfen begonnen. Noch nicht in Syrien angekommen, sondern in Ägypten in Wartestellung, wurde Claudius gleich wieder in die DDR zurückbeordert.
„Wochenlang in Kairo festgenagelt, flogen wir mit der ersten, einer Schweizer Maschine zurück. Über dem Meer atmeten wir auf. Sollten Bedrohung und Bedrängnis denn nie ein Ende nehmen?“[20] Mit der Suezkrise wurde der Nahostkonflikt Teil des Kalten Krieges. Die Sowjetunion zog ihren Botschafter aus Israel ab. Aufgrund des internationalen Drucks stellten Frankreich, Großbritannien und Israel die Kampfhandlungen gegen Ägypten aber schon am 6. November 1956 ein. Der Suezkanal blieb verstaatlicht. Eduard Claudius kehrte wieder nach Kairo zurück und wartete auf weitere Weisungen.
Am 6. November meldete ein westdeutscher Sender, dass sich Außenminister al-Bitar gegen die Errichtung eines Generalkonsulats der DDR in Syrien ausgesprochen und auf die guten Beziehungen Syriens zur Bundesrepublik hingewiesen habe. Die syrische Seite dementierte umgehend. Dies sei nur eine „Zweckmeldung“ gewesen.[21]
Wenige Wochen später ergab sich für Claudius dann doch noch die Möglichkeit zur Reise nach Damaskus, allerdings zu mehr als außergewöhnlichen Bedingungen. Er bekam kein Exequatur, das heißt, Syrien erteilte ihm offiziell keine Genehmigung zur Ausübung seiner konsularischen Tätigkeiten, de facto aber übte er alle Funktionen eines Generalkonsuls aus, einschließlich der Erteilung von Visa. Offiziell fungierte er als Stellvertreter des Bevollmächtigten der Regierung der DDR für die arabischen Staaten in Damaskus. Zu diplomatischen Anlässen wurde er wegen dieses unklaren Status nicht eingeladen und entzog sich seinerseits dem Gesichtsverlust durch Reisen in Nachbarländer.
Am 1. Februar 1958 schlossen sich Ägypten und Syrien zur Vereinigten Arabischen Republik zusammen. Einen Monat später kam noch der Jemen dazu. Das Gebilde hielt nur zweieinhalb Jahre. Am 28. September 1961 trat Syrien aus der Vereinigung wieder aus.
In der VAR gab Ägypten den außenpolitischen Kurs vor. Nach der Etablierung eines Generalkonsulats der DDR in Kairo bekam Eduard Claudius am 25. Februar 1959 die Mitteilung aus dem Außenministerium der DDR, dass das Generalkonsulat in Damaskus in ein einfaches Konsulat umgewandelt und dem Generalkonsulat in Kairo unterstellt werden sollte.[22] Da verlor Claudius die Geduld. Er brachte sich für eine Versetzung nach Hanoi ins Gespräch und wurde tatsächlich Botschafter in Nordvietnam. Er erwog, sofort dorthin abzureisen, was ihm aber untersagt wurde: Es sollte nicht wie eine Flucht des Konsuls vor den sich abzeichnenden Problemen aussehen. Claudius saß die letzten Monate aus. Am 20. Juli 1959 flog er mit Frau und Kleinkind in den Urlaub nach Ahrenshoop und kehrte nicht mehr auf seinen Posten nach Damaskus zurück.
Nach dem Abgang von Eduard Claudius gab es im Jahr 1960 mit der Begründung, die Zuständigkeit des DDR-Konsuls in Kairo bezöge sich auf die ganze VAR, zeitweise überhaupt keinen Konsul in Damaskus.
Im August 1959 wurde Eduard Claudius offiziell nach Vietnam abberufen. Am 6. August 1959 schrieb der Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, an den Präsidenten der Demokratischen Republik Vietnam, Hồ Chí Minh: „Hiermit beglaubige ich, daß Genosse Eduard Claudius-Schmidt zum Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter der Deutschen Demokratischen Republik in der Demokratischen Republik Vietnam berufen wurde.“[23]
Als der Konflikt zwischen Nord- und Südvietnam sich zuspitzte und Präsident Kennedy laut über eine Entsendung amerikanischer Truppen nach Vietnam nachdachte, kehrte Claudius im Juli 1961 dem diplomatischen Dienst den Rücken und reiste als Schriftsteller nach Potsdam zurück. Von 1967 bis 1969 war er Vizepräsident der Akademie der Künste der DDR.
Erst 1969 erkannten Ägypten, der Sudan, Syrien, Südjemen und Irak die DDR an und eröffneten diplomatische Vertretungen – eine Reaktion darauf, dass die DDR im Nahostkonflikt Partei für die arabischen Staaten (und gegen Israel) ergriffen hatte.[24]
Nach seiner Demission war Eduard Claudius noch mindestens zweimal in Syrien. Die erste Reise im Herbst 1973, er war 62 Jahre alt, wurde durch den Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges unterbrochen. Er hörte die Donnerschläge der Front und musste sich in Damaskus vor den „Phantom“-Jagdflugzeugen in Kellern in Sicherheit bringen. Am 10. Oktober wurde er in einem der Evakuierungsflieger Richtung Europa mitgenommen – wie schon 1956.[25]
Im Mai des darauffolgenden Jahres kehrte er noch einmal nach Syrien zurück, um seine unterbrochene Reise nach Palmyra fortzusetzen.
Der Bildband „Syrien. Reise in sieben Vergangenheiten und eine Zukunft“ erschien 1975 im Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale. Ein Jahr später starb Eduard Claudius mit nur 65 Jahren in Potsdam.
[1] Zitiert nach: Otto Langels: Geschichte aktuell: Der Kalte Krieg der Diplomaten, Deutschlandfunk, 22.9.2005, https://www.deutschlandfunk.de/geschichte-aktuell-der-kalte-krieg-der-diplomaten-100.html. Diese und alle weiteren Websites wurden zuletzt aufgerufen am 2.1.24.
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Hallstein-Doktrin
[3] PA AA M 01/A13640, Bl. 442.
[4] Ebd., Bl. 443.
[5] Ebd., Bl. 443 f.
[6] Ebd., Bl.465.
[7] Ebd., Bl. 444.
[8] Ebd., Bl. 455.
[9] Ebd., Bl. 449.
[10] Eduard Claudius: Ruhelose Jahre, Halle/Saale 1968, S. 191.
[11] Ebenda, S. 301.
[12] Im März 1957 wurde Gustav Just nach seiner Zeugenaussage im Prozess gegen Wolfgang Harich noch im Gerichtssaal verhaftet und in einem Prozess zusammen mit Walter Janka, Heinz Zöger und Richard Wolf zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.
[13] Zit. n. Carsten Gansel: Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann. Die Biografie, Berlin, Aufbau, 2023, S. 341.
[14] Ebd., Bl. 340.
[15] Beate Ihme-Tuchel: Die SED und die Schriftsteller 1946 bis 1956: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25669/die-sed-und-die-schriftsteller-1946-bis-1956/#footnote-reference-62
[16] Ein Beispiel ist Ferdinand Thun-Hohenstein (1921–2022), der die DDR auf verschiedensten diplomatischen Posten, zuletzt bei der UN vertrat.
[17] BArch, M 1-A/13640, nicht eingesehen.
[18] PA AA M01 A 13640, Bl. 434.
[19] Ebd., Bl. 403.
[20] Eduard Claudius: Syrien. Reise in sieben Vergangenheiten und eine Zukunft, Halle/Saale, Mitteldeutscher Verlag, 1975, S. 6.
[21] Vgl. PA AA M01 A 13640, Bl. 422.
[22] Ebd., Bl. 337.
[23] PA AA M01 Dok 248_009, Bl. 6.
[24] Vgl. Otto Langel: Geschichte aktuell. Der kalte Krieg der Diplomaten, a.a.O., https://www.deutschlandfunk.de/geschichte-aktuell-der-kalte-krieg-der-diplomaten-100.html
[25] Vgl. Claudius: Syrien, S. 164ff.
Annett Gröschner wurde in Magdeburg geboren und lebt seit 1983 in Berlin. Sie studierte Germanistik in Berlin und Paris, ist Schriftstellerin, Journalistin, Dozentin und Performerin. Bekannt wurde sie vor allem mit ihren Romanen „Moskauer Eis“ (2000) und „Walpurgistag“ (2011).Annett Gröschner ist zudem Mitinitiatorin von WIR MACHEN DAS.
Sie hat sehr viel Zeit im Archiv verbracht.