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Flucht im Archiv

12.5.1963, Grenzübergang Invalidenstraße: Nach dem gescheiterten Fluchtversuch mit einem BVG-Bus am Grenzübergang Invalidenstraße 1963 fertigten die DDR-Sicherheitsorgane Aufnahmen vom "Tatort" an. Dabei fotografierten sie auch Personen, die den Vorfall von der Westseite aus beobachtet hatten. © Bundesarchiv/Stasi-Mediathek; Signatur: BArch, MfS, AU, Nr. 11392/70, Bd. 2, Bild 400-415.

 

Zwei Fundstücke aus den Akten der Staatssicherheit

In Westberlin lebende Menschen mit ausländischem Pass waren nach dem Bau der Berliner Mauer sowohl für die spontane als auch für die organisierte Hilfe zur Flucht aus der DDR von großer Bedeutung. Anders als Bundesbürger*innen oder Westberliner*innen konnten sie relativ ungehindert in die DDR einreisen. Sie benötigten keinen Passierschein und konnten sich bis Mitternacht in Ostberlin aufhalten. Ausländer*innen machten Kurierdienste, stellten ihre Pässe zur Verfügung oder brachten Fluchtwillige im Kofferraum ihrer Fahrzeuge über die Grenze nach Westberlin. Entsprechend hoch war auch ihr Anteil unter den Verhafteten.[1] Die DDR perfektionierte mit jedem verhinderten Fluchtversuch, dessen Methode aufgedeckt wurde, das Sperr- und Kontrollsystem, so dass es im Laufe der Zeit immer weniger Schlupflöcher gab.
Als Fluchthelfer*innen besonders wichtig wurden Angehörige diplomatischer Vertretungen. Sie genossen Immunität und wurden nur in Ausnahmefällen an den Grenzübergangsstellen kontrolliert. Zwar unterhielten die DDR und die Syrische Arabische Republik in den 1960er Jahren noch keine diplomatischen Beziehungen – Grund war die seit 1955 geltende westdeutsche Hallstein-Doktrin, die die Aufnahme diplomatischer Beziehungen von Drittstaaten zur DDR als unfreundlichen Akt gegenüber der Bundesrepublik betrachtete. Aber es gab Konsulate in Ostberlin und Damaskus, die wie Botschaften behandelt wurden. Zwei syrische Konsulatsangehörige halfen vor diesem Hintergrund einer von Westberlin aus agierenden Fluchthilfeorganisation mit sogenannten „Diplomatentouren“. Marion Detjen schreibt in ihrem Buch „Ein Loch in der Mauer“ über die Fluchthilfeorganisation von Wolfgang Fuchs: „Für Fuchs arbeiteten 1965 und 1966 der Konsul und der Vizekonsul der Syrischen Arabischen Republik sowie der Vizekonsul der Jemenitischen Arabischen Republik. Den CD-Wagen des syrischen Konsulats, in dessen Kofferraum mehrere Flüchtlinge paßten, rüstete Fuchs mit einer Vorrichtung aus, die das CD-Nummernschild wegklappen und ein Ost-Berliner Nummernschild an seine Stelle treten lassen konnte. Über 60 Flüchtlinge wurden von Fuchs auf diesem Weg geholt.“[2] Die letzte Flucht mit dem CD-Wagen blieb ein Fluchtversuch, der in den Stasiunterlagen dokumentiert ist.

 

Fundstück 1

Im syrischen Kofferraum
Am 9. September 1966 gegen 20.30 Uhr wird ein Mercedes mit einer CD-Nummer der syrischen Vertretung in der DDR am Grenzübergang Friedrichstraße/Zimmerstraße aufgehalten und der Kofferraum geöffnet. Im Fahrgastraum befinden sich ein syrischer und ein jemenitischer Diplomat, im Kofferraum ein Ingenieur und seine Frau, eine Stenotypistin, beide bis vor ein paar Stunden im VEB Schwermaschinenbau Lauchhammer beschäftigt. Das Ehepaar wird unverzüglich festgenommen, die Diplomaten werden in einem Raum der Hauptabteilung VIII befragt. Während der Diplomat aus Jemen leugnet, an der Schleusung beteiligt zu sein, und angibt, er habe mit dem Fahrer, der wie er im Gebäude des jemenitischen Konsulats wohne, nur kurz nach Westberlin zum Essen fahren wollen, verweigert der syrische Diplomat jegliche Aussage und verhält „sich frech und provokatorisch“.[3]
Zur selben Zeit wird ein Kurier am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße verhaftet und befragt.

Seit März 1966 waren der DDR nach und nach 64 ihrer Bürger*innen abhandengekommen. In monatelanger Kleinarbeit hatten die Hauptabteilungen XX/5 und VIII festgestellt, dass immer dann, wenn eine Flucht bemerkt wurde, kurze Zeit vorher ein in der DDR akkreditiertes Diplomatenfahrzeug der SAR die DDR über den Grenzübergang Friedrichstraße Richtung Westberlin verlassen hatte.
Aber erst an diesem Abend bekamen die Mitarbeitenden der Behörden Einblick in die ausgeklügelte Methode: Ein westdeutscher Kurier ging über die Grenze, informierte die Fluchtbereiten, und ein weiterer Kurier brachte sie zu den Fahrzeugen, die in einer wenig belebten und schlecht beleuchteten Gegend am Rand von Ostberlin mit ausgeschalteten Scheinwerfern parkten. Der an diesem Abend verhaftete Kurier, ein junger Jurastudent aus Bonn, war vom Mai 1966 bis zu seiner Festnahme an dreizehn Schleusungen mit 25 DDR-Bürger*innen beteiligt gewesen. Er gab an, aus Idealismus gehandelt zu haben, während die Diplomaten Geld dafür genommen hätten. Fahrzeug und Fahrer seien immer dieselben gewesen. An manchen Tagen sei noch ein zweiter Mann mitgefahren. Den Jemeniten sehe er zum ersten Mal. Um welche Nationalität es sich bei den Fahrern handelte, sei ihm nicht bekannt gewesen, und auch die Flüchtenden hätten es nicht erfahren, um das System nicht zu gefährden.

Das Flüchtlingsehepaar war am Morgen des 9. September mit seinem Trabant von Lauchhammer nach Berlin gefahren und hatte sich, wie vorher vereinbart, mit einem der Kuriere um 14.30 Uhr vor dem Haus der Polnischen Kultur in der Friedrichstraße getroffen. Den Trabant hatten sie weisungsgemäß am Strausberger Platz abgestellt. Gemeinsam mit dem Kurier begaben sie sich zu Fuß zum mit der Schleuserorganisation vereinbarten Treffpunkt an der Prenzlauer Allee/Dimitroffstraße (heute Danziger Straße), wo sie von einem zweiten Kurier, dem später Verhafteten, in Empfang genommen und in die Wartenbergstraße in Berlin-Hohenschönhausen begleitet wurden. Dort stiegen sie nach Einbruch der Dunkelheit in den Kofferraum des Fluchtfahrzeugs. Der Kurier fuhr auf der Rückbank bis zum Alexanderplatz mit, von wo er zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße ging, ein Fußweg von einer halben Stunde. Der erste Kurier war derweil längst wieder in Westberlin und flog noch am selben Tag nach Westdeutschland zurück.
Als Grund für die Flucht gab das Ehepaar an, dass all seine Verwandten im Westen seien. Der Bruder der Frau, seit seiner Flucht 1960 in Rastatt lebend, habe den Kontakt zu der Schleuserorganisation aufgenommen. Die Flucht sollte 16.000 DM kosten.
Statt ins Notaufnahmelager Marienfelde, wie sie es sich erträumt hatten, wurden die Verhafteten nach Hohenschönhausen gebracht, ins Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit.

Quelle: BArch, MfS HA IX MF 12443, Bl. 19–26.

Am 21. Oktober 1966 schreibt die Hauptabteilung IX Berlin der Staatssicherheit einen zusammenfassenden stichpunktartigen Bericht über die Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Syrischen Arabischen Republik:
„[…] obwohl keine diplomatischen Beziehungen zwischen DDR und SAR, entwickelte sich gute Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten bei der Bekämpfung von Verbrechen
- Auslieferung eines DDR-Bürgers durch die SAR, wollte DDR über SAR illegal verlassen
- Ausweisung von 2 in der DDR akkreditierten mit diplomatischen Rechten ausgestatteten Vertretern der SAR, wegen ihrer über einen längeren Zeitraum währenden Zusammenarbeit mit der Terrororganisation (Fuchs)[4] in Westberlin und dem amerikanischen Geheimdienst
- Mißbrauch ihrer Immunität zur Durchführung von Verbrechen gegen die Staatsgrenze
- Übergabe von Beweismaterialien über die verbrecherische Tätigkeit dieser Vertreter der SAR durch MfAA [Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten] der DDR, Vertiefung der freundschaftlichen Beziehungen und Zusammenarbeit beider Länder bei der Verhinderung von Anschlägen gegen dessen (sic!) Staatsgrenzen, gegenseitige Unterstützung und Hilfe.“[5]

 

Zweites Fundstück

Die reklamierte Liebesbeute
Am 30. Januar 1967 gegen 19.25 Uhr fährt ein Opel mit dem Kennzeichen B-KK 690 mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Westberliner Seite der Friedrichstraße auf den Checkpoint Charlie zu, durchfährt den Grenzübergang und kommt auf der Ostberliner Seite an der Grenzübergangsstelle Friedrich-/Zimmerstraße zum Stehen. Der Fahrer weist sich mit einem syrischen Pass aus, die Frau neben ihm, deren Beine aus dem geöffneten Fenster ragen, ist seine deutsche Ehefrau, die sich weigert, das Fahrzeug zu verlassen und das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik zu betreten. Bereits auf Westberliner Gebiet – so hatten es die Posten beobachtet – hatte sie versucht, die Wagentür zu öffnen. Als ihr dies nicht gelang, drehte sie das Seitenfenster der Wagentür herunter, streckte die Beine hindurch und versuchte schreiend, das Fahrzeug durch das Fenster zu verlassen. Ihr Mann hielt sie fest, während er fuhr.
Nach dem gebotenen Halt auf dem Kontrollplatz springt die Frau aus dem Auto und rennt Richtung Westberlin. Der Posten am Schlagbaum stellt sich ihr in den Weg, hält sie fest und führt sie am Arm in die Einreisekontrollbaracke. Sie wehrt sich.
Ihr Ehemann folgt ihr. Von der Westberliner Seite aus wird das Geschehen aufmerksam beobachtet. Auf der Ostberliner Seite befürchtet man, der politische Gegner könnte aus dem Gesehenen eine Entführung mitsamt einschlägigen Berichten in den Medien konstruieren.
Bei der Einzelbefragung ergibt sich folgende, aus zwei Perspektiven zusammengesetzte Geschichte: Der Syrer war vor einiger Zeit als Gastarbeiter nach Westberlin gekommen und arbeitete bei Siemens am Band. Wie viele seiner Landsleute war er öfter nach Ostberlin gefahren, um tanzen zu gehen und Frauen kennenzulernen, was in Ostberlin leichter war als in Westberlin, denn die Männer hatten etwas, was die Frauen ihre Zurückhaltung schnell aufgeben ließ – Westgeld. Aber hier war es noch mehr: Die Ostberlinerin und der Syrer verliebten sich, und im Sommer darauf, 1965, trafen sie sich in Bulgarien, und der Mann brachte ihr gefälschte Papiere auf den Namen einer Westdeutschen mit. Die Flucht gelang. Sie kam zu ihm nach Westberlin, sie heirateten, sie fand eine Arbeit in der Parfümabteilung des KaDeWe, alles war gut. Aber der Mann hatte Heimweh nach Syrien, er hielt es nicht aus in Deutschland. Die Frau weigerte sich, mit ihm zu gehen. Sie wollte ihr neues, aufregendes Leben nicht schon wieder aufgeben. Sie stritten sich immer häufiger deswegen. An diesem 30. Januar holte er sie mit einem Leihwagen von der Arbeit ab, versprach ihr eine Überraschung und fuhr sie geradewegs in die DDR zurück.
Nach der getrennten Vernehmung wurden sie und ihr Auto um 20.05 Uhr der Volkspolizei übergeben. Der Mann hatte seine Liebesbeute wieder zurückgebracht. Was aus den beiden wurde, geht aus den Protokollen der Staatssicherheit und der 1. Grenzbrigade der Nationalen Volksarmee nicht hervor.

 

Quellen:

BArch, DVH 59/16913, Bl. 147–149

BArch, MfS ZAIG 1322

[1] Marion Detjen: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989, München 2005, S. 92 f.

[2] Ebd., S. 263 f.

[3] BArch, MfS HA IX MF 12443, Bl. 22.

[4] Gemeint ist die Schleuserorganisation von Wolfgang Fuchs.

[5] BStU, MfS HA IX MF 12443, Bl. 29.

Annett Gröschner

Annett Gröschner wurde in Magdeburg geboren und lebt seit 1983 in Berlin. Sie studierte Germanistik in Berlin und Paris, ist Schriftstellerin, Journalistin, Dozentin und Performerin. Bekannt wurde sie vor allem mit ihren Romanen „Moskauer Eis“ (2000) und „Walpurgistag“ (2011).Annett Gröschner ist zudem Mitinitiatorin von WIR MACHEN DAS.

Sie verbringt gerade sehr viel Zeit im Archiv.

www.annettgroeschner.de

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