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Another one bites the dust

© Privat

 

Der Weg zum Bundesarchiv wird mit einer Stunde und zehn Minuten angegeben. Das sollte mehr oder weniger ausreichen, um mich auf den Besuch einzustellen. Annett Gröschner hatte mich im Vorfeld auf meinen ersten Besuch im Bundesarchiv vorbereitet, mir erklärt, wie man einen Termin reserviert, wie man bestimmte Akten bestellt, wie man einen Account und Passwörter einrichtet und wie das Transaktionsprotokoll funktioniert. Nun treffen wir uns an der Tür des Archivs in Berlin-Lichterfelde, sie begleitet mich wie ein Kind an seinem ersten Schultag. Auf dem Weg zum Lesesaal erzählt sie mir von der Geschichte des Ortes. Er war einmal eine Kadettenanstalt, das Archiv ist von einem anderen Berliner Standort hierher umgezogen, es gibt ein Schwimmbad, und Annett erwähnt einen Mitarbeiter, der seit den neunziger Jahren im Archiv arbeitet. Wir dürfen nur einen Bleistift in den Aktenlesesaal mitnehmen.

Am Eingang nennen wir dem Rezeptionisten mit einem „Guten Morgen“ unsere Namen, er überprüft die Anmeldung und gibt uns zwei Schlüssel, damit wir unsere Sachen deponieren können. Ein kleines Kärtchen mit meinem Namen und meiner Registriernummer muss ich bei jedem Besuch des Gebäudes an der Information abgeben und beim Verlassen wieder mitnehmen. Wir gehen einen langen Weg bis zum Lesesaal, erhalten die im Voraus angeforderten Akten und beginnen:

Freitag, den 5.5.2023

Akte Nr. XXXXXXX, 1973
Brief von Hafiz al-Assad, Präsident der Arabischen Republik Syrien, an Willi Stoph, Vorsitzender des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik, maschinengeschrieben auf Deutsch und Arabisch.

Akte Nr. XXXXXX, 1987
Unterzeichnetes Abkommen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Arabischen Republik Syrien.

Akte Nr. XXXXXX, 1964
Entsendung einer Delegation der Deutschen Demokratischen Republik nach Syrien, Irak, Ägypten und Libanon.

Akte Nr. XXXXXX, 1964
Geschenke, die an Mitglieder der Regierung und der Partei im genannten Land geschickt wurden, Geschenkscheine, wer erhält was? Blumenvase, Gemälde, Teller, Ferngläser, Konfektschachteln, Zigaretten …

Akte Nr. XXXXXXX, 1978/1979
Beschlüsse der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik.

Akte Nr. XXXXXXX (ohne Datum)
Rede von Hafiz al-Assad, ins Deutsche übersetzt.

Ich nehme den Text in die Hand und höre wie automatisch Assads Stimme in meinem Kopf, während ich die Reaktionen meines Körpers darauf beobachte. Es ist ein kollektives Phänomen, dass viele Syrer*innen bei der Erwähnung seines Namens leiser sprechen und zusammenzucken, wenn sie seine Stimme hören. Wie bei Gefahr gerät der Herzschlag aus dem Takt und die Körpersignale werden konfus.

Mit einer bewussten, ebenso kollektiven Entscheidung haben sich andere von uns während der Revolution 2011 davon befreit, unsere Parolen zielten genau auf jene Macht, die sein Bild und seine Stimme selbst mehr als zehn Jahre nach seinem Tod noch über uns hatten. Nur wenigen von uns ist klar, dass er trotz allem bis zu unserem Tod in uns stecken wird – zumindest in denjenigen von uns, die ihn noch erlebt haben. Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem er starb, an die Schwere, das Schweigen und die blanke Angst, die auf dem Land lagen, und zugleich an eine heimliche, vorsichtige Freude, die man sorgfältig versteckte. Ich stand damals kurz vor meiner Abiturprüfung, sie wurde, wegen der Trauerzeit, um eine ganze Woche verschoben, und als wir uns dann einfanden, war die ungeschriebene Anweisung, dass man schwarze Trauerkleidung trug.

Eine Archivarin macht uns darauf aufmerksam, dass die Besuchszeit vorbei sei. Der erste Tag ist vorüber. Die Aufregung, die ich über die Akten empfand, hat mich daran gehindert, mich auf ihren Inhalt zu konzentrieren. Die Rückfahrt, eine Stunde und zehn Minuten, reicht mehr oder weniger aus, um zu mir selbst zurückzukehren.

Mittwoch, 10.5.2023

Im Traum roch ich frische Farbe, eine glänzende himmelblaue Farbe, ich schaute mit Kinderaugen auf die hohen Wände des Zimmers, obwohl ich im Traum kein Kind war. Ich war mir bewusst, dass ich träumte, und ich sagte im Traum, als spräche ich zu meinem Unterbewusstsein: „Ich träume, denn dieses Haus wurde vor etwa einem Jahr verkauft und gehört uns nicht mehr“, und sogleich änderte sich das Aussehen des Hauses; jetzt war es das neue.

Von dem Haus meines Großvaters mütterlicherseits träume ich immer, wenn es um Heimat, Kindheit, Geborgenheit, Liebe und Familie geht. Als der Ort zu dem Haus wechselte, in dem meine Großeltern später lebten, roch es scharf nach synthetischer Farbe. Im Traum dachte ich an die Wohnungskrise und daran, wie ich die Zimmer in dem großen Haus aufteilen würde, lebte ich darin. Städte gab es nicht, es gab nur das Haus und den Geruch.

Freitag, 13.5.2023

Mein Name stand nicht auf der Liste am Empfang, als ich ankam. Weniger als 230 Sekunden reichten aus, um in meinem Unterbewusstsein den ganzen Schrecken des Wartens an Checkpoints und Absperrungen zu wecken und eine Angstattacke auszulösen, mit der ich zwar umgehen und die ich unter Kontrolle halten konnte, die aber bis zum nächsten Tag anhielt.

Der Angestellte am Empfang fragt mich nach meinem Namen, wie schreibt sich das?, und ob ich sicher sei, heute für den Aktenlesesaal angemeldet zu sein. Ich erzähle ihm von dem Projekt, dass Annett Gröschner und ich hier nach Akten suchen, in denen es um Syrien und die DDR geht, und dass sie schon im Lesesaal sei. Er ruft in einem Büro an, währenddessen kommt sein Vorgesetzter und stellt mir die gleichen Fragen, dann nimmt er dem Angestellten den Hörer weg und spricht weiter. Schließlich sagt er mir freundlich, er kenne das Projekt und erinnere sich vom letzten Mal an mich, dann lässt er mich hinein.

All das dauerte kaum vier Minuten, während derer ich wie automatisch handelte. Mein Lächeln und meine Stimme sollten so natürlich und ruhig wie möglich wirken, genau wie ich mich vor zehn Jahren an Checkpoints verhalten hatte. Ich sagte mir ständig, das Schlimmste, was jetzt passieren konnte, wäre, dass sie mir sagten, ich dürfe ohne Anmeldung nicht hinein und solle an einem anderen Tag wiederkommen, und dass das, was ich jetzt erlebte, nur eine Reaktion auf Traumata war. Aber mein ansteigender Herzschlag sagte mir, dass ich kurz vor einer Angstattacke stand, und ich konnte nur hoffen, dass sie nicht hier vor diesen zwei Menschen ausbräche!

Ich bereitete mich darauf vor, in Staub zu wühlen – eine polemische Umschreibung für Archivarbeit. Hier aber ist alles ruhig, sauber und steril gehalten, Geräte regeln die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit der Umgebung, damit die Dokumente erhalten bleiben.

Der einzige Staub zwischen mir und diesen Akten bin ich selbst, ein Staub, der sich niemals legen wird.

Akte Nr. XXXXXX, 1974
Informationen über den Aufenthalt von 184 syrischen Jugendlichen aus der „Stadt der Kinder der Märtyrer“ als Ausdruck des Kampfes der Völker gegen den Imperialismus.

Kinder ohne Namen, nur Belege über die Kosten für ihre Kleidung, eine ärztliche Untersuchung und die Anreise.

Akte Nr. XXXXXX, 1985
Reise einer syrischen Regierungsdelegation nach Magdeburg zur Hasenjagd. Gesamtkosten der Reise mit Ausrüstung fast eine halbe Million Mark!

Für die Bananen wurde mehr bezahlt als für die Musiker. Meine Großmutter hatte uns früher immer verboten, Bananen auf dem Balkon zu essen, es sollte niemand sehen. Ich spreche mit Annett über Bananenmangel.

Sozialistische Grüße von der einen an die andere Seite und zurück, noch mehr sozialistische Grüße, Wünsche und Danksagungen.

Versprechungen der DDR, die syrischen Fünfjahrespläne zu unterstützen, mit denen die syrische Wirtschaft maßgeblich ausblutete und die die Korruption institutionalisierten. Zusagen, die Befugnisse der Botschafter zu erweitern und ihre Arbeit zu erleichtern. Noch mehr Zusammenarbeit und eine glänzende Zukunft der sozialistischen Länder werden in Aussicht gestellt.

Ich finde immer noch nicht, wonach ich suche; alles, was ich feststelle, sind die Reaktionen meines Körpers auf dieses Abenteuer, auf den Weg, den Ort, die Akten, ihren Inhalt und wie ich bewusst und unbewusst damit interagiere.

Dienstag, 16.5.2023

Ich träumte, dass ich Menschen so etwas wie Wachs- oder Latexmasken abnahm. Ich erkannte ihre Gesichter trotzdem nicht. Zwischen den Masken oder Formen und den Gesichtern der Personen war ein Abstand, ihre Augen waren offen, ein Anflug von Sprechen und Lächeln schien auf ihren Mündern fixiert zu sein, die Gesichtszüge waren puppenhaft, auch die Personen selbst blieben unbewegt. Ich lief zwischen ihnen hin und her, nahm ihnen hier und da ihre Verhüllung ab und sagte zu jemandem, der mich im Traum begleitete, etwas, woran ich mich nicht erinnere. Auch die Person konnte ich nicht sehen, der Ort war konturlos, es war eine weite und karge Landschaft. Ich fühlte mich nicht unwohl, aber als ich erwachte, bekam ich Angst und spürte eine große Schwere in Körper und Kopf. Der Traum ging mir den ganzen Tag nicht aus dem Sinn.

Nicht zum ersten Mal träumte ich so, als wäre ich mir im Land des Traums der gesamten Erdoberfläche mit ihrem Horizont, ihrer Rundung und ihrer Atmosphäre bewusst. In einem anderen Traum, in dem die Luft kein Geräusch trug, sprach ich einmal zu einem Freund, aber meine Worte erreichten ihn nicht. Ich blickte in ein Vakuum zwischen uns, in das die Worte fielen.

Später am Tag erhielt ich eine Absage. Ich wollte einen Podcast für das Projekt machen, ein Interview mit einer Familie. Der Vater hatte in der DDR gelebt, und als er nach Syrien zurückkam, war er überzeugt, dass überall Abhörgeräte installiert seien. Sein Zustand eskalierte in einer Weise, die der ganzen Familie schadete. Es war das dritte Mal, dass jemand, der derartige Erfahrungen gemacht hat, ein Interview absagte. Diktaturen hinterlassen überall auf der Welt unsichtbare Spuren und schaffen eine ganz andere Art von Archiven und unerzählten, undokumentierten Geschichten.

Freitag, 19.5.2023

Heute konnte ich nicht ins Bundesarchiv. Eine Bahnstrecke war gesperrt, ich saß fast zwei Stunden im Zug fest, nur um schließlich wieder nach Hause zu fahren, wo ich hergekommen war. Heute also keine Konfrontation mit der Diktatur, ich fühle eine Art Erleichterung und höre den ganzen Tag laute Musik.
„Ich habe dir die Akte dagelassen.“ Annett mailt mir ein Foto von den Einkaufsrechnungen von Assads Frau während eines Berlinbesuchs.

Freitag, 26.5.2023

Akte Nr. XXXXXXX, 1978
Besuch von Hafiz al-Assad, seiner Frau und einer begleitenden Delegation in der DDR. Anweisungen zur Berichterstattung, Besuchsprogmm, Orte, wer ist eingeladen, wer von ihnen tut was, wie spricht man den Präsidenten an? Hinweise neben Namen, Entwürfe und finale Versionen. In der arabischen Übersetzung nichts davon, auch keine Erwähnung des Weins, nur Hühnchen und Reis werden aufgeführt. Bei der Dessertspeise „Altenburger Eisbombe“ ist das Wort „Bombe“ im Entwurf gestrichen.

Der Besuch der „Genossin Anisa al-Assad“, wie sie in den Akten genannt wird, beschränkt sich auf ein Museum, ein Kinder- und Familienheim, einen Park, eine Stadtführung und den Fernsehturm. Klischeehafter und unwichtiger geht es nicht! Meine eigene Erinnerung an Anisa Machluf beschränkt sich auf zwei offizielle Familienfotos mit ihrem Mann und den fünf Kindern.

Akte Nr. XXXXXX, 1988
Langer Untersuchungsbericht zu einer Gruppe in die DDR entsandter Syrer, die eine Ausbildung als Wartungsmechaniker in einer Textilfabrik absolvieren sollten. Die Akten der Entsandten waren nicht ausreichend geprüft worden; nach fünf Monaten Sprachkurs wurde festgestellt, dass das Ausbildungsniveau der Syrer über dem des ihnen zugedachten Facharbeiterlehrgangs lag. Es kam zum Streit, die Syrer weigerten sich, weiter am Kurs teilzunehmen, waren aber wohl untereinander gespalten. Die syrische Botschaft wurde kontaktiert, schließlich wurde vorgeschlagen, sie nach Syrien zurückzuschicken, um sich des Problems zu entledigen.

Keine Nennung von Namen, die Personen, ihre Standpunkte und wer sie waren, bleiben ausgeklammert. Das Ergebnis der Untersuchung besagt, dass eine lange Reihe von Mitarbeitern, zunächst auf syrischer Seite, erfahrene Facharbeiter entsandt habe. Mitarbeiter und Abteilungen im Außenhandelsministerium und das Staatsamt für Berufsbildung hatten weder das Bildungs- und Berufsniveau der Entsandten überprüft noch ob die Schulung ihrem Weiterbildungsbedarf entsprach.

„Die Informationen entsprechen den Tatsachen“, „der Fokus lag auf dem Vertrag, nicht auf den Personen“, „schadet dem Ruf der Berufsausbildung in der Republik“, so die Untersuchungen und Berichte.

Ich bat nun um Akten anderer Art. Ich wollte von der politischen Korrespondenz wegkommen.

Eine Mitarbeiterin bringt mir eine besonders dicke Mappe. Namen von Syrern, die seit vielen Jahren an der Leipziger Messe teilnahmen, Telegramme. Die Sprache, in der in den sechziger Jahren Telegramme aus Syrien verschickt wurden, diejenige der ehemaligen Mandatsmacht in Syrien, Frankreich, wechselte in den achtziger Jahren zu Englisch als der weltweit dominanten Sprache, trotz des in Syrien beständig beschworenen Antiimperialismus und Antikapitalismus, wobei der Kapitalismus durch die Vereinigten Staaten von Amerika repräsentiert wurde.

Bemerkenswert auch die Verschiebung der Diskurssprache in der Korrespondenz aus und nach Syrien unter Präsident Nureddin al-Atassi (1966–1970) zu General Hafiz al-Assad in den Folgejahren. Aus einem zivilen Ton wurde zunehmend ein blumig-sozialistischer. Ich bemerke die sich wiederholenden Unterschriften, handschriftliche deutsche Notizen an den Rändern als Ausdruck von Autorität, Korrekturen in Entwürfen und strenge, hierarchische Rhetorik in der Korrespondenz von deutscher Seite. Ich frage mich, wie man all das auf syrischer Seite formuliert hat. An jene Dokumente heranzukommen ist aber unmöglich.

Berichte, Eindrücke, Interpretationen und Meinungsaustausch über die Atmosphäre während des Treffens aus DDR-Sicht. Ich bemerke meinen bewussten Versuch, die Handschriften zu unterscheiden, und meinen unbewussten Widerwillen, sie mir einzuprägen. Nach einem langen Tag verlasse ich das Archiv erschöpft. Ich gebe die Akten zurück, bekomme meinen Ausweis zurück und gebe den Schlüssel ab.

„Bis nächste Woche“, sagt der freundliche Mitarbeiter und mein Herz stockt.

Auf dem Rückweg fange ich an, diesen Text zu schreiben, höre sehr laut Freddie Mercury, Another One Bites the Dust, und versuche, innerhalb einer langen Stunde und zehn Minuten wieder bei mir selbst anzukommen.

Aus dem Arabischen von Günther Orth

Dima Albitar Kalaji

wurde 1982 in Damaskus geboren, lebt seit 2013 in Berlin. In Damaskus studierte sie Kunst und Medien. Die Autorin veröffentlicht Essays und Texte in verschiedenen Magazinen und Zeitungen mit Fokus auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge, darunter Zeit Online und Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung. Bei WIR MACHEN DAS ist Dima Albitar Kalaji seit 2017 als Autorin, Kuratorin und Lektorin für das Projekt „Weiter Schreiben“ tätig. Für die gemeinnützige Organisation initiierte sie als Künstlerische Leiterin zudem die Projekte „Mapping Berlin / Damaskus“, „Geruch der Diktatur“ und zuletzt „Lebendiges Archiv – Vom Umgang mit Diktatur“. Sie hat die Podcasts „Syrmania“ für Deutschlandfunk Kultur und „(W)Ortwechseln“ in Kooperation mit rbbKultur produziert. Bei Sukultur erschien 2022 ihr Briefwechsel mit Ramy Al-Asheq unter dem Titel „Weniger als ein Kilometer“.

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