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Texte > Streng geheim oder Vertrauliche Verschlusssache

Streng geheim oder Vertrauliche Verschlusssache

Original Stasiunterlagen/ Eingeschwärzt © privat

 

Akte Nr. XXXX
19.09.1978

Streng geheim. Bericht zur innenpolitischen Lage in Syrien.

Der klassifizierte Bericht besteht aus neunzehn Seiten, einer Karte Syriens und einigen Zusatzinformationen. Er beinhaltet umfangreiche Informationen zur syrischen Geografie, Wirtschaft und Demografie sowie zu politischen Kräften im Land, ihren internationalen Verbindungen und deren Bedeutsamkeit. Zudem ist die Rede von 500 DDR-Bürgern, die in Syrien leben, dreißig von ihnen arbeiten in der dortigen Botschaft der DDR.

So und so viele Syrer leben in Westdeutschland und so und so viele in der DDR, stellt der Bericht fest, und listet auf, wie viele in welchen Städten leben und wie viele von ihnen Studenten, Diplomaten oder Techniker sind oder in anderen Berufen arbeiten.

Syrer haben in der DDR keine politischen Organisationen, heißt es. Vier von ihnen arbeiten dort als Korrespondenten, jeweils für die syrische Nachrichtenagentur SANA, die Zeitungen al-Baath und al-Thawra und die Literaturzeitschrift al-Mawqif al-Adabi.

So und so viele Einreise-, Transit- und Besuchsvisa wurden in beiden Staaten beantragt, so und so viele Anträge auf Eheschließung wurden eingereicht, überwiegend von deutschen Frauen, die Syrer heiraten wollen.

Es folgen mehrere Seiten zu Hafiz al-Assad, zu seinem Regierungssystem, seiner Familie, seiner Herkunft, wie er von seiner Umgebung und vom Volk angesprochen und tituliert wird, und dann steht mittendrin dieser Satz:

Bis 1966 war er ein sehr starker Raucher, aus gesundheitlichen Gründen gab er das Rauchen kurzfristig auf.

Der Diktator klopft Asche von seiner Zigarette auf den Bericht vor mir. Sie verteilt sich auf meinen Haaren und dringt mir in die Augen. Später rieselt sie auf mein weißes Bettlaken und auf den Teller, von dem ich esse. Jahrzehntelang haben er und Beamte seines Regimes ihre Zigaretten auf unserer Haut ausgedrückt, sie berauschten sich daran, wie sie verbrannte und dabei leise zischte, und sie tun es noch heute.

Syrien liegt in Schutt und Asche, die Asche von Hafiz al-Assads Zigaretten.

Hoch oben thront er und schaut mit seinem steinernen Blick auf mich herab. Ich bin in Sicherheit. Ich sitze in einem lautlosen, pieksauberen und ordentlichen Saal im Stasi-Archiv unweit des Berliner Alexanderplatzes und blättere in vergilbten Akten, die zugleich langweilig und interessant sind. Ich lese Dokumente aus der Assad-Diktatur, die mir als meine Lebensgeschichte anhängt. Ich lese Abkommen und Namen von Personen, die mich nicht kennen, die aber gleichwohl mein Leben und das Leben von Generationen vor und nach mir geprägt haben.

Die Dokumente bewirken, dass ich alles Vergangene anders wahrnehme, obgleich in ihnen nichts steht, was ich nicht begreife oder was ich in seinen Auswirkungen auf mein Leben nicht selbst erfahren hätte, wenn ich auch bisher keine Kenntnis von den bürokratischen Vorgängen und Verfügungen hinter den Ereignissen hatte. Es ist das erste Mal, dass ich offizielle Originaldokumente eines untergegangenen Staates in Händen halte, nicht nur abfotografierte Kopien, Rechercheartikel, wissenschaftliche Abhandlungen, herausgeschmuggelte Fotos oder Dokumentarfilme. Am liebsten würde ich sie alle zerfetzen und in ein historisches schwarzes Loch verwandeln, ähnlich meinen Erinnerungslücken. Ich beginne im Lesesaal zu weinen, meine Tränen fließen, während ich vor Akten sitze, deren strenge, abweisende Sprache ich mit meinem bescheidenen Deutsch zu verstehen versuche.

 

Akte Nr. XXXX, 1988
Streng geheim

Bericht über den Besuch einer Delegation des syrischen Innenministeriums in der DDR im Juli 1988. Delegationsleiter: Generalmajor Muhammad Khaddour, Oberster Kriminalermittler der Arabischen Republik Syrien. Begegnungsprotokolle, Nennung von Vereinbarungen, die zwischen Abteilungen der Innenministerien beider Länder geschlossen wurden. Keine Einzelheiten zur Art der Kooperation, der Schulungen oder zu den Abkommen selbst. Die Gespräche fanden aber, wie gewohnt, „in freundlicher Atmosphäre“ statt.

Diametrale Erinnerungen von 1988:

Meine Mutter brachte mich zu meiner Großmutter, weil sie arbeiten musste. Kurze Zeit ging ich in Damaskus auch in einen privaten Kindergarten namens „Das schöne Leben“. Einen Kindergarten zu besuchen war damals allgemein noch nicht üblich. Ich musste dort eine olivgrüne Weste tragen, im Winter darunter zudem einen gleichfarbigen grob gestrickten Pullover mit engem Ausschnitt und engen Ärmeln aus kratziger Wolle, dazu ebensolche Strumpfhosen. Ich weinte, wenn ich diese Kleidungsstücke anziehen musste.

Die achtziger Jahre waren in Syrien politisch, wirtschaftlich und von der Sicherheitslage her eine düstere Zeit. Außenpolitisch herrschte Isolation und im Inneren Angst. Mein Vater war zum Arbeiten nach Saudi-Arabien gegangen, teils war dies eine Flucht aus unserer Lebenssituation, teils verließ er Syrien in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Golfstaaten waren ein wichtiges Ziel für Syrer, um Arbeit und Sicherheit zu finden. Meine Mutter war mitgegangen, hielt das Leben dort aber nicht lange aus. Sie musste den ganzen Tag zu Hause sitzen und warten, bis ihr Mann von seiner Arbeit in einem Projekt in der Wüste im Norden Saudi-Arabiens zurückkam. Sie ging zurück nach Syrien und blieb dort, bis mein Vater seine Lebensverhältnisse in Saudi-Arabien etwas verbessern konnte.

Ich war sechs Jahre alt, und das Haus meiner Großeltern in Damaskus war ein Hort der Liebe, der Fantasie und des Verwöhntwerdens. Mir wurde aber auch damals schon eingeschärft, dass nichts, was in der Wohnung gesagt wurde, nach außen dringen durfte! Außerdem durfte ich nie auf dem Balkon essen. Das hatte zwei Gründe: Zum einen sollte man Rücksicht auf diejenigen nehmen, denen es weniger gut ging als uns, und zum anderen sollte niemand sehen können, was wir aßen, denn daraus hätte man auf unsere finanzielle Situation schließen können. Diktaturen machen aus einfachen Dingen wie Bananen oder Papiertüchern eine Besonderheit von gesellschaftlicher Relevanz, mit der man angeben kann oder die man taktvoll verbirgt.

Das alles gibt es nicht mehr. Geblieben sind nur Sitzungsprotokolle und Abkommen „zur Ausweitung der Zusammenarbeit beider Länder“.

Für uns, die Einwohner postkolonialer Länder, die mit Diktatur, Korruption, Katastrophen und Kriegen geschlagen sind und von den Demokratien dieser Welt unterstützt werden, ist es schwer, irgendwo auf der Erde einen Platz zu finden. Wir suchen uns Nischen, bis wir verhaftet, getötet oder aus dem Land gedrängt werden. Dann versuchen wir, in anderen Diktaturen zu leben und uns auch dort Nischen zu schaffen. Vielleicht schaffen wir es auch in eine Demokratie, die uns dann auf ihre Art einengt und neutralisiert.

Wir sind mit so vielem gescheitert, woran wir uns versucht haben. Wir haben Großes geleistet, aber nie Gerechtigkeit erfahren. Gesetze und Politik standen gegen unsere Träume. Ein eigenes Land haben wir nur in Erzählungen, die uns niederdrücken und für die wir aus lückenhaften Erinnerungen schöpfen.

 

28.8.2023

Endlich wieder Streiks und Demonstrationen im Süden Syriens, während ich diese Worte schreibe! Wieder fordern die Menschen den Sturz des Diktators, zerreißen seine Bilder. Bis zur Übersetzung und Veröffentlichung dieses Textes hoffe ich, dass unser schweres Schicksal enden möge!

 

Aus dem Arabischen von Günther Orth

Dima Albitar Kalaji

wurde 1982 in Damaskus geboren, lebt seit 2013 in Berlin. In Damaskus studierte sie Kunst und Medien. Die Autorin veröffentlicht Essays und Texte in verschiedenen Magazinen und Zeitungen mit Fokus auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge, darunter Zeit Online und Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung. Bei WIR MACHEN DAS ist Dima Albitar Kalaji seit 2017 als Autorin, Kuratorin und Lektorin für das Projekt „Weiter Schreiben“ tätig. Für die gemeinnützige Organisation initiierte sie als Künstlerische Leiterin zudem die Projekte „Mapping Berlin / Damaskus“, „Geruch der Diktatur“ und zuletzt „Lebendiges Archiv – Vom Umgang mit Diktatur“. Sie hat die Podcasts „Syrmania“ für Deutschlandfunk Kultur und „(W)Ortwechseln“ in Kooperation mit rbbKultur produziert. Bei Sukultur erschien 2022 ihr Briefwechsel mit Ramy Al-Asheq unter dem Titel „Weniger als ein Kilometer“.

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