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Texte > „Katana“ oder „Auch wenn ich heirate, bleibe ich DDR-Bürgerin“ - zweiter Teil

„Katana“ oder „Auch wenn ich heirate, bleibe ich DDR-Bürgerin“ - zweiter Teil

BERLIN 16.02.1980 Hochzeitspaar im Standesamt in Berlin, der ehemaligen Hauptstadt der DDR, Deutsche Demokratische Republik.  Foto: Manfred Uhlenhut

Als mich die E-Mail des Bundesarchivs bezüglich der weiteren Akten zu Martina und Samer erreichte, musste ich mich zunächst um Akten zu meinem eigenen Leben im Hier und Jetzt kümmern. Auch dieses dreht sich um Ziffern, die bei Beamten in Archiven landen.

Am nächsten Tag konnte ich zwei weitere Akten zu Martina und Samer einsehen. Eine stammt aus dem Jahr 1989, also aus dem letzten Jahr der DDR!

 

Akte MfS – HA II – Nr. 31668

Auf Seite 1 ein einziges Wort, geschrieben mit dickem rosafarbenem Markierstift: „Katana“.

Das Wort war schon mehrfach in Geheimdossiers, Berichten und auf Zetteln über die beiden aufgetaucht, die alle aus dem Jahr 1989 stammen. Deshalb nehme ich an, dass damit Samer gemeint war.

Ein Bericht listet die Daten von Ausreiseanträgen nach Syrien zwischen dem 1.1.1987 und dem 14.6.1990 auf. Zwei weitere, von April und Mai 1988, betreffen eine Einreiseerlaubnis in die DDR.

Der wichtigste Teil dieser Akte ist ein handschriftlicher Bericht, für dessen Lektüre ich einen Freund zu Rate ziehen musste. Wir kamen zu folgender Fassung:

(geschwärzt) geb. (geschwärzt) in Berlin

Stand 1981

Antrag auf Eheschließung mit dem Syrer:

(geschwärzt) Dipl.-Ing. / Homs (Deligierter (sic!) der Baath-Partei – SAR)

wohnhaft Hama (geschwärzt) P.O.R. Homes (sic!)

Beruf: Diplomingenieur

Datum des Antrages 20.01.1981

Partner kennen sich seit 1974. Sie haben sich beim Studium in Freiberg kennengelernt. Er seit 1979 wieder in Syrien tätig.

1979 beschlossen beide zu heiraten. Wohnsitz soll nach der Eheschließung Syrien sein.

Bemühungen des (geschwärzt) um eine Aspirantur [Aufbaustudium, A. d. Ü.] in der DDR.

Will nicht hierbleiben – fühlt sich seinem Staat gegenüber verpflichtet.

Erhielt Aspirantur in der DDR.

Sie VVS-verpflichtet [Geheimnisträger der Stasi, A. d. Ü.] – wurde 20.10.80 entpflichtet + 3 Jahre Verbot NSW [Nicht-sozialistisches Wirtschaftsgebiet, A. d. Ü.]

(geschwärzt) hatte gute Beziehungen zum Neffen des syrischen Präsidenten.

Klug, zuverlässig, progressiv, gute M/L[Marxismus/Leninismus]-Kenntnisse. Linker Flügel der Baath-Partei, engagiert sich jedoch nur so weit, dass ihm keine Nachteile erwachsen.

Bezeichnet sich als „echter Araber“.

(geschwärzt) „auch wenn ich heirate, bleibe ich DDR-Bürgerin.“

Gesellschaftlich aktiv, aber „nicht zuviel“, mäßiges pol. Interesse. Pflichtbewusst, zurückhaltend.

Zweite Seite:

Dem Antrag wurde 1984 zugestimmt. Seit 1985 sind beide miteinander verheiratet. Eine Ausreise der M. erfolgte nicht.

1988 stellte der (geschwärzt) einen Antrag auf ständige Wohnsitznahme in der DDR.

Wieder endet die Geschichte. Mehr gibt es im Archiv dazu nicht.

Sie heirateten also doch noch, trotz der Ablehnung des Ehe- und Ausreiseantrags von 1981!

Samer kehrte nach Ableistung seiner fünf Arbeitspflichtjahre in Syrien nach Ostberlin zurück und sie heirateten 1984. Vielleicht gehen die 1988 beantragten Besuche von Samers Eltern darauf zurück, dass sie ein Kind erwarteten?

Aber worauf verweist das Wort „Katana“? Laut Ergebnissen meiner Google-Suche heißt so ein japanisches Schwert.

Die Zeit, in der Samer nach Syrien zurückging, war eine einschneidende für das Land, seine Bewohner und die Machtzirkel um die Baath-Partei. Nie hatte Syrien eine solche Repression erlebt, unverhohlen wurden Anhänger der Kommunistischen Partei, der Muslimbrüder und Nasseristen verhaftet. Aber sicher war auch sonst niemand, man konnte wegen seines Aussehens festgenommen werden, aufgrund einer Intrige, eines falschen Spitzelberichts oder einfach nach Lust und Laune von Geheimdienstlern oder Soldaten.

Zur selben Zeit spaltete sich die „Kämpfende Avantgarde“ als bewaffneter Arm von den Muslimbrüdern ab und verübte zunächst das Massaker gegen die Kadettenschule in Aleppo. Das Regime reagierte mit einem Bombardement auf die Stadt Dschisr asch-Schughur und der Abriegelung der Stadt Hama. Einen Monat lang ließ das Regime Bomben auf Hama regnen, dann rückte die Armee in die Stadt ein und tötete tausende Bewohner unter dem Vorwand, damit gegen die bewaffneten Rebellen vorzugehen. Hama wurde geplündert und zerstört. Bis heute hat man nicht alle Verschwundenen gefunden und man weiß nicht, ob sie verschleppt, getötet oder unter Trümmern begraben wurden. Jahrelang bekamen Angehörige keine Bescheinigungen über ihr Schicksal.

In Syrien erfuhr zunächst niemand von der Militäraktion, und als Nachrichten davon durchdrangen, fürchteten sich alle, davon zu sprechen, denn jeder, der in den Verdacht geriet, mit den Bewohnern von Hama zu sympathisieren, konnte verhaftet werden. Über Jahre hinweg vermieden Syrer jeden Kontakt mit Bewohnern von Hama. Das Massaker blieb ein Tabuthema und nur die Mutigsten flüsterten engen Vertrauten etwas darüber zu. Was die Bewohner der Stadt später von den Gräueltaten berichteten, die sie erlebt hatten, führte in der syrischen Gesellschaft zu einem kollektiven Trauma, das bis heute anhält.

Im Jahr des Massakers, 1982, war meine Mutter schwanger mit mir und im selben Jahr wurde ich geboren. Sie berichtete mir, dass sie Angst hatte, bei ihrer Arbeit auch nur ein falsches Wort zu sagen, und erzählte von der Angst in den Augen der Menschen, von verbissenem Schweigen und davon, wie andere versuchten, wieder andere Menschen ins Unheil zu stürzen, indem sie sie nach ihrer Meinung zu dem Massaker fragten. Es folgte eine Welle der Emigration unter jungen Syrern. Nicht zuletzt gingen auch meine Eltern ins Ausland.

Darüber hinaus gibt es Berichte von Menschenrechtsgruppen über Massaker an Gefangenen im Wüstengefängnis von Palmyra in den Jahren von 1980 bis 1983.

1984 versuchte Rifaat al-Assad, seinen Bruder Hafiz aus dem Präsidentenamt zu putschen. Rifaat war der Anführer der sogenannten „Verteidigungsbrigaden“, die allein seinem Befehl unterstellt waren. Diese Sturmtruppe hatte bereits in Hama gewütet und war für die Massaker von Palmyra verantwortlich. Nach dem gescheiterten Putsch wurde Rifaat ins Ausland verbannt. Er lebte in Spanien, Frankreich und Großbritannien und baute sich dort ein Immobilien- und Wirtschaftsimperium auf. 2020 verurteilte ihn ein französisches Gericht zu nur vier Jahren Haft wegen Korruption, Unterschlagung und Steuerhinterziehung. Nach Verhandlungen innerhalb der Assad-Familie und nachdem viele seiner direkten Widersacher gestorben waren, konnte Rifaat schließlich nach Syrien zurückkehren.

Wer aber war der Neffe des syrischen Präsidenten, den Samer so gut gekannt haben soll? Ein Sohn von Rifaat? Oder einer der Söhne von Fawaz al-Assad, einem weiteren Bruder von Hafiz, der die berüchtigten Schabiha-Milizen gründete? Seine Machtbasis lag im Bereich der syrischen Küste, wo er durch Schmuggel und Schutzgeld reich wurde, bis seine Milizionäre im ganzen Land wüteten.

Durch alle Berichte, die mir von der Archivmitarbeiterin vorgelegt wurden, zieht sich ein unterschiedlicher Sprachgebrauch, wenn von Samer bzw. von Martina die Rede ist. Der Autor des Berichts zeigt fast schon Ehrfurcht vor Samer, wenn er ihn als „echten Araber“ zitiert (ohne dass ich wüsste, was das heißen soll). Zudem geht aus den Berichten keine Haltung zu den Geschehnissen in Syrien hervor. War Samer nur wegen seiner Liebe zu Martina zurückgekommen? Oder auch wegen der Wirtschaftsblockade, der politischen Situation oder aus Angst? Und was war Martinas Meinung zu alldem? War ihre Introvertiertheit eine Art Selbstschutz? Oder lag ihre Zurückhaltung in ihrer Arbeit als Informantin begründet, weil Stasi-Mitarbeiter wussten, dass auch sie selbst beobachtet wurden?

Ich habe mir weitere, jeweils individuelle Akten zu Martina und Samer bestellt, aber ich erwarte nicht, dass ich darin Antworten finden werde. Nur falls einer der beiden das hier liest und beschließt, mich zu kontaktieren, könnten meine Fragen beantwortet werden.

 

Dima Albitar Kalaji

wurde 1982 in Damaskus geboren, lebt seit 2013 in Berlin. In Damaskus studierte sie Kunst und Medien. Die Autorin veröffentlicht Essays und Texte in verschiedenen Magazinen und Zeitungen mit Fokus auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge, darunter Zeit Online und Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung. Bei WIR MACHEN DAS ist Dima Albitar Kalaji seit 2017 als Autorin, Kuratorin und Lektorin für das Projekt „Weiter Schreiben“ tätig. Für die gemeinnützige Organisation initiierte sie als Künstlerische Leiterin zudem die Projekte „Mapping Berlin / Damaskus“, „Geruch der Diktatur“ und zuletzt „Lebendiges Archiv – Vom Umgang mit Diktatur“. Sie hat die Podcasts „Syrmania“ für Deutschlandfunk Kultur und „(W)Ortwechseln“ in Kooperation mit rbbKultur produziert. Bei Sukultur erschien 2022 ihr Briefwechsel mit Ramy Al-Asheq unter dem Titel „Weniger als ein Kilometer“.

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